Sagen der Gemeinde Bachagel

Der Mann ohne Kopf

Es war im August, zur Zeit der Ernte. Wochenlang hatte es geregnet und die reife Frucht auf den Feldern litt Schaden. Aber endlich kamen doch Sonnenschein und gutes Wetter, und wer Erntegut zu bergen hatte, war nicht müßig und bemühte sich, mit doppelter Kraft nachzuholen, was notgedrungen versäumt worden war.

Der Bauer Hans-Jörg hatte mit seinem Weib an einem schönen Tag sein Äckerlein mit reifer Frucht geschnitten und die Frucht auf dem Stoppelgesicht des Ackers ausgebreitet, dass sie trockne und am anderen Tag eingebracht werden könne, denn die Wetterzeichen waren schon wieder nicht die besten. Am anderen morgen bestätigten dies erst recht die Schafwölkchen am Himmel. Darum wollte man schon gar nicht säumen. Doch da erschien der herrschaftliche Büttel des Vogts mit dem Befehl, der Bauer Hans-Jörg habe sich im Mauthaus einzufinden und dort auf dem Vogthof beim Einbringen der Ernte pflichtschuldigst mitzuhelfen. "Wen hast du noch zu bestellen?" fragte Hans-Jörg den Büttel. "Nur dich sonst niemand." - "Dann sag dem Vogt, dass ich ihm dienen will, wie ich`s schuldig bin und wie er`s verlangen kann." - Ja, ja", sagte der Büttel, der dem Hans-Jörg wohl geneigt war.

"Aber... bedenk...!" - "Ist schon bedacht", fiel ihm der Bauer ins Wort. "Wenn alle anderen Bauern bestellt wären, würde ich tun, was sie tun. Aber so, da es der Vogt auf mich abgesehen hat, sag ich diesmal: Erst ich, dann er." - "Hans-Jörg, ich wünsch dir Glück", sagte der Büttel und ging.

Der Hans-Jörg hat also den Frondienst zurückgestellt und seine eigene Ernte zuerst eingebracht. Man ließ ihn den ganzen Tag in Ruhe, es kam keine Mahnung vom Vogt und er wurde in keiner Weise bei seiner Arbeit gehindert. Gegen Abend kam der Bub des Büttels dahergestürmt und brachte aufgeregt seine heimliche Botschaft heraus: "Der Vater lässt dir vertraulich sagen, dass du auf der Stell verduften sollst hinüber ins Württembergische, sonst geht es dir an den Kragen." Noch am selben Abend wurde Hans-Jörg verhaftet und in das Verlies der Vogtei geworfen, in das schaurige Kellergewölbe, wo die meisten, die hineinkamen, das Jenseits stärker rochen als das Diesseits. - Und nach ein paar Tagen machte man ihm den Prozess.

Der Tatbestand war klar. In die Sprache des Gesetzes übertragen lautete er so: Frevelhaftes Vergehen gegen die von Gott eingesetzte Obrigkeit. Und das Urteil: Der Frevler soll mit dem Schwert vom Leben zum Tode gebracht werden. Gegen dieses Urteil konnte keine Revision eingelegt werden, gegen dieses schreckliche Unrecht. Für den Hans-Jörg gab es keine höhere Instanz. Der Verurteilte schrie dem Vogt die fürchterlichsten Fluchworte und Verwünschungen ins Gesicht: "Ich will am Jüngsten Tag nicht zur Rache schreien über euch, sondern will auch keine Ruhe finden auf eurem Schandwasen. Mit dem Kopf unterm Arm will ich umgehen, damit ihr keine Ruhe findet!" Seine Drohungen erfüllten sich. Er geht um und findet keine Ruhe.

Zu manchen Zeiten wenn der Vollmond am Himmel steht, hört man nach dem Verklingen des letzten Glockenschlags der Turmuhr um die Mitternacht im Mauthaus ein Poltern und Rascheln. Der oberste Laden am Giebel wird ungestüm aufgerissen und eine kräftige Männerfaust stößt ihn vollends auf. Die Hand zieht sich zurück, und kurz darauf poltert es durch die Räume, so, wie wenn jemand über in die Quere gelegte Balken stolpern würde - dann ist Stille. Nach einiger Zeit öffnet sich die Haustüre und ein Mann, der seinen Kopf unterm Arm trägt, tritt heraus. Er schleppt sich mühsam, einen Fuß vor den anderen setzend, an der Innenseite der hohen Gartenmauer entlang bis zu einem abgeriegelten Törlein. Die Pforte öffnet sich von selbst, ächzt, und im gleichen schleppenden Schritt wandelt der Mann mit seinem Kopf lautlos über den Kiesweg des Gartens. Er bückt sich suchend und lässt sich endlich in der Mitte des Gartens auf einer von Sträuchern verborgenen Bank nieder. Ein tiefes, leidvolles Schluchzen und Stöhnen dringt durch die Nacht. Sind menschliche Stimmen zu hören, so erhebt er sich, kommt lautlos aus seinem Versteck hervor und wandert ruhelos auf und ab, wird er gesehen, so bleibt er stehen, stöhnt ein paar mal leise, verstummt und wartet. Obwohl der Mann ohne Kopf noch niemandem etwas zu leide tat, meiden Mann und Frau, die zu solch später Nachtstunde heimkehren, den Weg durchs "Gängele" (= Fußweg ab "Keller" vorbei an den Gärten von Neuhäusler - Baumann - Straubinger zur Hauptstraße) ins Dorf und machen lieber einen weiteren Umweg um diese unheimliche Stelle.

Kurz bevor die Uhr vom nahen Kirchturm die erste Morgenstunde ankündigt, wandert der Mann mit seinem Kopf unterm Arm auf dem gleichen Weg zurück ins Mauthaus. Die Türen ächzen, fallen krachend in die Schlösser und polternd schließt sich der Giebelladen. Da schlägt die Turmuhr einmal. die Stunde der Geister ist vorbei.

Der Mann ohne Kopf wird solange keine Ruhe finden, bis ein Menschenkind frei aller Schuld mit dem ruhelosen Wanderer Mitleid empfindet, ihn anspricht und so seinen Bannfluch der Verwünschungen löst - dann wird er nie wieder wandern und kann ruhen in Frieden.

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